Mit weinenden Augen

In wenigen Tagen startet der Neubau der Bahnlinie Neustadt-Pritzwalk. Die Ersatzfahrfahrpläne werden ausgehängt. Für Bahnfans ein Moment, um der verlorenen Strecke nebenan nachzutrauern: Neustadt-Rathenow.

„Es ist zum Heulen“, sagt Bodo Knaak: „Aber es konnte ja keiner wissen, wie es mal kommt.“ Der Mann steht in seinem Heimatort Sieversdorf genau dort, wo seit zwei Jahrzehnten keine Züge mehr rollen und Schotter, Schwellen und Schienen längst verschwunden sind. „Wäre das alles so liegengeblieben damals, hätte man heute vielleicht noch mal was machen können“, sagt Knaak.

Fotos: Dampflok in Sieversdorf © Bodo Knaak | Straße in Sieversdorf heute © Matthias Anke

Eine verschwundene Strecke lässt sich nicht mehr sanieren
Der Heimatforscher versucht ein Gedankenspiel: Wäre diese Strecke zwischen Neustadt und Rathenow mit diesem Sieversdorfer Bahnhof mittendrin 2006 nicht stillgelegt und abgebaut worden, wäre womöglich am kommenden Montag auch hier Baustart gewesen für eine Kompletterneuerung? Wer weiß.
Baustart ist am 3. März jedenfalls im unweit entfernten Kyritz. Von dort bis Pritzwalk und später auch Neustadt wird die gesamte Bahnstrecke erneuert. Ungezählte Betonschwellen liegen schon bereit. Ein mit kilometerlangen Schienen beladener Güterzug zieht im Bahnhof Kyritz seit Montag Blicke auf sich. Steine, Schotter, Schwellen liegen bereit: Zwischen Neustadt, Kyritz und Pritzwalk steht die Streckenerneuerung bevor. Wäre die auch für die Strecke Neustadt-Rathenow denkbar gewesen?
„Ich hänge die Ersatzfahrpläne für den Bus in die Kästen“, erzählt ein Mitarbeiter vom Streckenbetreiber „Regioinfra“ (RIN). Die Ersatzfahrpläne für die Sperrung zwischen Kyritz und Pritzwalk ab Montag werden noch ausgehängt. Bisher gibt es nur diese Info im Kyritzer Schaukasten.
Als RIN-Chef Ralf Böhme kürzlich in Kyritz darüber informierte, dass es unverhofft 23 Millionen Euro gibt für diesen Streckenneubau, war auch Bodo Knaak dabei – und staunte nicht schlecht. Die Bahn und der Bund geben so viel Geld aus, um eine Nebenstrecke zu ertüchtigen, die schon oft vor dem Aus stand. Weil sie plötzlich wichtig wird. Denn über sie soll das Baumaterial bis nach Neustadt gebracht werden, wo ab August wiederum die Berlin-Hamburger Bahn „generalsaniert“ wird. Neustadt – dorthin wären Güterzüge auch von Rathenow aus gelangt, weiß Knaak.

Streckenerneuerung zwischen Neustadt, Kyritz und Rathenow | Ersatzfahrpläne © Matthias Anke

99 Jahre lang: Züge fuhren von 1904 bis 2003
Der Mann ist Bahnfan durch und durch. Minutiös hielt er das Ende der Strecke in seiner Region fest und machte 2015 ein Buch daraus. Er berichtet von der letzten Fahrkarte, die er am Schalter kaufte. Und er hat Bildmaterial wie kein anderer bis hin zum letzten Gleis, das aus seinem Bett gehoben wurde. Es war 2003, als der Bahnverkehr zwischen Rathenow und Neustadt eingestellt wurde – 99 Jahre nach der Eröffnung 1904. 2006 folgte die Stilllegung. „Dann ließ die Bahn wohl vor allem aus Haftungsgründen alles zurückbauen“, erklärt Knaak. Nirgends dürften noch Gleise liegen zwischen Rathenow und Neustadt. Entsprechend traute Bodo Knaak seinen Augen nicht, als er kürzlich bei Großderschau ein paar Meter auf einer alten Überquerung entdeckte. 2021 wurde auch noch „das letzte Erkennungsmerkmal dieser Brandenburgischen Städtebahn“ abgerissen: Das Gebäude des Kopfbahnhofs in Neustadt wich einem Parkplatz.

Bodo Knaak in Großderschau © Matthias Anke

Rhinower Unternehmer kaufte die Strecke
Wie es heute entlang der Strecke aussieht, weiß im Speziellen Hartmut Badtke. Der Bauunternehmer aus Rhinow kaufte einst die gesamte Strecke von einer Gesellschaft, die eigentlich Draisinenfahrten plante. Zuletzt waren solche als Ausflugsziel rund um die Bundesgartenschau 2015 in Rathenow im Gespräch.
„Eigentlich wollte ich nur einen Teil der Strecke, die durch unseren Wald führt, um aufzuforsten. Aber es gab alles nur komplett“, erinnert sich Badtke. Nach und nach verkaufte er die 35 Kilometer lange Fläche weiter an ganze Agrargenossenschaften, an Einzelpersonen.

So sieht es heute zwischen Neustadt und Rathenow aus
„Einige Stücke sind heute Gartenland, auf anderen stehen Einfamilienhäuser“, berichtet der Rhinower: „Ein Großteil wurde als Wald aufgepflanzt. Und die längsten Abschnitte sind längst wieder Acker.“
Der Reihe nach: In Neustadt überquerte der Zug die Berlin-Hamburger Bahn. Die entsprechende Brücke wurde abgerissen.Wo anschließend das Gleis in Neustadt über die L 141 führte, ist heute nichts mehr zu erkennen. Es folgt Hohenofen, wo der ehemalige Haltepunkt noch steht. Das Gebäude aber ist auf dem besten Weg zu einer Ruine. Auch die Bahnbrücke über die Hohenofener Dosse an der Papierfabrik wurde weggerissen. Weiter geht es durch die Feldmark, die wie überall nichts mehr von einer Bahn erkennen lässt. Wo Gleise lagen, wächst Mais, Raps und anderes.
Sieversdorfs früheres Bahnhofshaus indes steht gut da. Es ist bewohnt. Schauspieler Thom Nowotny aus Berlin lebt dort seit vielen Jahren. Dass er in einem früheren Bahnhof wohnt, das ließ ihn schon so manche Behörde spüren: „Der Abwasserverband forderte von mir eine wasserrechtliche Erlaubnis für eine neue Klärgrube. Die beantragte ich 2020 bei der Unteren Wasserschutzbehörde. Doch dort musste ich erstmal nachweisen, dass das Gebäude in seiner früheren Funktion von der Bahn auch wirklich entwidmet wurde“, berichtet Nowotny übern Gartenzaun hinweg.

Bahnhof Sieversdorf in den 1990er-Jahren © Bodo Knaak | Thom Nowotny und seine Frau © Matthias Anke

Bäume in Rhinow, Einfamilienhäuser in Rathenow
„Also folgten weitere Telefonate. Erst seit vorigem Jahr ist das alles erledigt“, erklärt der Bahnhofsbewohner. Und Bodo Knaak schüttelt den Kopf: „Für unbedarfte Außenstehende gibt es die Bahnlinie eben noch immer. Sie ist ja auch auf sämtlichem Kartenmaterial eingezeichnet und selbst noch in Autonavis drin.“
In Rhinow ist das alte Bahnhofsgelände ebenfalls noch gut erkennbar. Auch dieses Gebäude ist keine Ruine. Ein Schild verweist auf die „Kreativerie“, eine „Galerie für Design im historischen Bahnhof“ nebst Pension. Der einstige Bahnhof Rhinow ist auch ohne Gleisbett noch erkennbar.
Ein blaues Schild „zu den Zügen“ aus jüngeren DB-Zeiten erweckt dort wie auch in Hohenofen, Sieversdorf und andernorts den Eindruck, als sei alles erst seit gestern vorbei und nicht schon seit über zwei Jahrzehnten.
Im weiteren Streckenverlauf würde in Rhinow ein Zug heute gegen einen Feldstein donnern. Der steht mitten auf dem früheren Gleisbett und trägt Inschriften. „Hier fuhr seit dem 25. März 1904 die Brandenburgische Städtebahn“, ist zu lesen: „Zurück zur Natur ab 11. April 2015.“
Der Stein erinnert daran, wie drei Kilometer der Bahntrasse mit Mischwald bepflanzt wurden.
Nach dem Wald geht es via Spaatz, Hohennauen und Albertsheim bis nach Rathenow. Dort stehen an mehreren Stellen Einfamilienhäuser auf dem alten Gleisbett. „Pläne für solche Wohnbebauungen gibt es übrigens auch für Hohennauen und Großderschau“, verrät Hartmut Badkte.
Wo einst Züge rollten, liegen heute also Menschen in ihren Schlafzimmern oder sitzen in der Küche. Die Bahnlinie, wie sie mal war, kann es damit nie wieder geben.
Das weiß auch Bodo Knaak. Selbst ein Neubau auf einer etwas anderen Linienführung wäre undenkbar. „Um in Deutschland eine neue Eisenbahnstrecke zu bauen, braucht es locker zwei Jahrzehnte“, erfuhr er neulich.
Dafür freut sich Knaak heute um so mehr für alle Anlieger in der anderen Himmelsrichtung von Neustadt über Wusterhausen und Kyritz bis Pritzwalk – wo diese Nebenstrecke über die Zeit hinweg immer erhalten und befahren blieb. Und wo nun „Millionen in die Hand genommen werden, die der Strecke zugutekommen, die sonst weder so, noch so schnell ausgebaut worden wäre“.
Knaak: „Auch wenn dies nur der Generalsanierung Berlin-Hamburg wegen erfolgt, bleiben doch die Gleise danach liegen. Sie ist dann die am modernsten ausgebaute Bahnlinie in Brandenburg. Diese Entwicklung zeigt, dass die Zukunft Lösungen bringen kann, an die man heute noch nicht denkt.“

Text: Matthias Anke | Foto oben: Bahnhof Rhinow heute © Matthias Anke | Nachdruck aus MAZ vom 25. Februar 2025

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