Der total überfüllte Zug hielt in Rathenow Nord. Doch was wurde da durch ein Abteilfenster auf den Bahnsteig gewuchtet? Ein Koffer war das nicht, ein Teppich?
Der Zug fuhr ab. Der Stationsvorsteher blinzelte durch den Dampf der Lokomotive und sah, dass ein Mann neben dem Trumm stand.
„Was haben sie denn da?“, fragte er nicht gerade freundlich.
„Flugzeugturbine.“
„Jaja und ich bin der Kaiser von China!“
„Für das Brachymedialteleskop.“
„Wa?“
„Brachy-medial-teleskop.“
„Zur Nervenheilanstalt müssen sie bis Görden weiterfahren.“
„Nein, ich wohne hier zwei Minuten vom Bahnhof, Wilhelm-von-Leibniz-Straße.“
„Ähhh.“
„Kommen sie doch nach Feierabend vorbei, meine Frau hat gerade Birnenschnaps aufgesetzt.“
„Birnymedialteleskopal?“
„Genau.“
Nach Feierabend ging der Stationsvorsteher den kurzen Weg. Schon von der Straße sah er etwas sehr Merkwürdiges, das das nicht gerade kleine Haus überragte. Der Mann öffnete die Gartentür und begrüßte den Stationsvorsteher wie einen alten Freund.
„So packen sie doch mal gleich mit an – hier, wir können ums Haus rumgehen.“
Am Nachbarzaun stand eine Frau im blauen Kleid: „Na, Herr Ingenieur, müssen sie mal wieder über den Zaun verschwenken?“
„Ach, heute nicht, erst muss ich die Turbine einbauen.“
Und dann standen sie hinter dem Haus im Garten, oder besser dort, wo einmal ein Garten gewesen war.
„Brachymedialteleskop“, sagte der Mann stolz, „13 Tonnen. 10 Meter und 15 Zentimeter hoch.“
„Und das kann sich bewegen?“
„Fahrradkette, das Rad kommt aus einen alten Wehrmachts-LKW, den hatten sie hier in der Kaserne vergessen.“
„Und damit machen sie Birnenschnaps?“
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Hintergrund: Edwin Rolf (1899-1991), Ingenieur und Amateurastronom aus dem heutigen Tschechien, arbeitete seit 1940 bei der Emil Busch AG in Rathenow. Zwischen 1949 und 1953 berechnete, konstruierte und fertigte er mit dem Rathenower Refraktor das weltgrößte Brachymedialteleskop und stellte es in seiner Privatsternwarte in Rathenow auf. Bis zum Bau des Roque-de-los-Muchachos-Observatoriums 2002 auf La Palma war es das weltweit größte Instrument dieser Bauart. Es steht heute im Optikpark Rathenow.
Text: Sebastian Strombach, Foto: Ute Fürstenberg