DAS HEXENDORF

Als ich aus Sieversdorf fahre, sehe ich im Rückspiegel, wie mir eine Frau zuwinkt und dabei ganz grässlich grinst. Die Sonne geht unter, und eine tote Kiefer wirft einen langen, schmalen Schatten auf die Straße, ein Zauberstab, der so groß ist, dass man ihn nur aus der Luft sehen kann. Der Zauberstab berührt meine Motorhaube, und ich bremse. Ich rase rückwärts durch Sieversdorf und mit jedem Meter reise ich auch in der Zeit zurück, aus meinen Reifen werden Holzräder, aus meinen vierzig Pferdestärken vier Pferde, und noch bevor ich das Dorf verlasse, hat sich mein VW Käfer in eine Kutsche verwandelt.
„Sind Sie auch gekommen, um am Putz zu kratzen“, fragt mich eine Frau, als ich vor der Kirche aussteige.
„Ich“, sage ich, „Nein. Warum?“
„Vor knapp hundert Jahren wurde auf dem Rhinowberg eine Hexe verbrannt, und als man den Sand abgetragen hat, um daraus die Kirche zu bauen, hat man die Asche der Hexe mit verbaut“, sagt die Frau und grinst ganz grässlich. „Seither kommen die Gläubigen nach Sieversdorf, um am Putz zu kratzen und ein kleines Stückchen Hexe als Andenken mitzunehmen.“
„Wie lange geht das schon so“, frage ich.
„Als die Gläubigen anfingen am Putz zu kratzen, haben grade mal 100 Menschen in die Kirche gepasst. Heute ist die Kirche so ausgehöhlt, dass es über 300 sind“, sagt die Frau genau in dem Moment, als die Kirche einstürzt und die Gläubigen unter sich begräbt.
Ich fahre zurück in die Zukunft und überfahre beinah eine Frau, als ich die Kirche sehe, die da steht, als wäre nichts gewesen.
„Ist alles okay“, fragt mich die Frau.
„Ja, ich dachte“, stammle ich, „die Kirche? Ist das nicht die Kirche, die aus der Asche einer Hexe gebaut wurde?“
„Nein“, sagt die Frau, „um Gottes Willen“, sagt die Frau, „unsere Kirche wurde mit dem Schweiß und Blut der Gläubigen errichtet“, sagt die Frau und grinst ganz grässlich.

Text: Marc Anton Jahn

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Hintergrund: In der Frühen Neuzeit fanden auch in Sieversdorf und Umgebung Hexenverfolgungen statt: So soll Marie Schröder, Tochter eines Bauern in Sieversdorf, eine Marie Müller, verehelichte Rhinow, mehrfach wegen Zauberei beschuldigt habe. Als „Hexe“ brannte diese daraufhin 1669 auf dem Rhinowberg. 1660 war ihre Verwandte, die 60-jährige Hedwig Müller, verehelichte Berendt, Bauersfrau in Köritz bei Neustadt, „daselbst“ verbrannt worden. Sie habe bei einer Folter zugegeben, ihr krankes Vieh gebötet zu haben und zudem „dem Teufel in leibhaftiger Gestalt sich antrauen lassen“. Ein weiterer Prozess geht auf das Jahr 1620 zurück: Ilse Möller hatte sich nach Brunne mit Bauer Hans Kruse verheiratet. Sie war in Sieversdorf in der Erntezeit 1619 mit ihrer Nachbarin Greta Rinow in Streit geraten, weil diese ihr Schwein so geschlagen hatte, dass es lahm wurde und starb. Daraufhin mischte ihr Ilse Möller angeblich Rattengift ins Essen. Sie soll Hexerei zugegeben haben und wurde in Brunne verbrannt.

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