INTERVIEW MIT EINER MUMIE

KÖNIG Herr Kalebuz, Herr … Ritter, ist das Ihr erstes Mal –
KALEBUZ Fräulein –
KÖNIG Frau!
KALEBUZ Frau?
KÖNIG Frau König! Nicht Fräulein, Herr Ritter.
KALEBUZ Frau König, ich habe elf Kinder –
KÖNIG Vierzig! Vergessen Sie nicht die Vergewaltigungen.
KALEBUZ Ach … das Recht der ersten Nacht …
KÖNIG Vergewaltigungen!
KALEBUZ … das erste Mal vergisst man nie, die Müllerin, Mehl in den Ohren und Mehl im Haar, und als ich sie auszog, rieselte das Mehl zu Boden –
KÖNIG Herr Ritter!
KALEBUZ Winzige weiße Mehlkörnchen blieben an meinen Fingerspitzen kleben –
KÖNIG Ihr erstes Mal, Herr Ritter, im Drogeriemarkt.
KALEBUZ Jawohl, Frau König. Überdachte Marktplätze gab es damals nicht.
KÖNIG Was möchten Sie als erstes kaufen?
KALEBUZ Hmmm.
KÖNIG Nach über 300 Jahren?
KALEBUZ Was würden Sie mir empfehlen?
KÖNIG Definitiv kein Shampoo. Wie wär’s mit einer Zahnbürste?
KALEBUZ Hmmm.
KÖNIG Oder Verbandszeug?
KALEBUZ Hmmm.
KÖNIG Herr Ritter, Sie wurden im Jahr 1690 von der Dienstmagd Maria Leppin des Mordes an ihrem Verlobten, dem Schäfer Pickert aus Bückwitz, bezichtigt, nachdem sie Ihnen das Recht der ersten Nacht verwehrt hatte.
KALEBUZ Und freigesprochen.
KÖNIG Nachdem Sie einen Eid auf Ihre Unschuld geschworen hatten. Zitat: „Wenn ich der Mörder bin gewesen, dann wolle Gott, soll mein Leichnam nicht verwesen.“ Was sagen Sie dazu?
KALEBUZ Das hätte jedem passieren können.
KÖNIG Es wurden zwei weitere Leichen mit Ihnen zusammen bestattet, beide waren bei ihrer Entdeckung im Jahr 1794 vollständig verwest, Sie, Herr Ritter, jedoch nicht im Geringsten.
KALEBUZ Ist das das Verbandszeug, Frau König, von dem Sie gesprochen haben?
KÖNIG Verbandszeug … oh … äh … ja genau, Herr Ritter, Verbandszeug, wir haben 2-lagiges Verbandszeug, 3-lagiges oder 4-lagiges, wir haben parfürmiertes Verbandszeug, Recycling-Verbandszeug, Verbandszeug in bunt oder mit Bildchen drauf. Alles, was das kleine Mumienherz begehrt.
KALEBUZ Vielen Dank, Frau König.
KÖNIG Willkommen im 21. Jahrhundert.

Text: Marc Anton Jahn | Zeichnung: Sebastian Strombach

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Hintergrund: In Kampehl, zwei Kilometer von Neustadt entfernt, liegt in einer Gruft die Mumie des Ritters Christian Friedrich von Kalebuz, der von 1651 bis 1702 lebte. Laut der Legende hatte er – wegen Mordes angeklagt – geschworen, dass sein Leichnam nie verwesen solle, wenn er der Mörder gewesen sei. Als die Gruft abgerissen und die Särge darin erdbestattet werden sollten, war seine Leiche nicht verwest.

http://www.kalebuz.de/

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