Sieversdorf hatte um 1922 zwei konkurrierende Fleischermeister namens Holzenburg und Mickelat. Es war eine Konkurrenz unter Nachbarn gleichen Gewerbes – nicht dieser bösartige Neid heutiger Widersacher, sondern ein gesundes Gegeneinander. Jeder hatte sein Auskommen. Man grüßte sich, die Kinder spielten miteinander, man versuchte, die Kunden des anderen in den eigenen Laden zu bekommen – und man ging zusammen in die Kirche. In der Kirche allerdings saßen die Mickelats, weil das nun so Tradition war, immer auf denselben Plätzen und immer hinter den Holzenburgs. Das war so und ging auch jahrelang gut.
Am zwölften Sonntag nach Trinitatis war die Kirche bis auf den letzten Platz belegt. Es war einige Verwandtschaft aus Berlin und anderen Städten im Dorf. Die Kirchgänger mussten in ihren Bankreihen dichter zusammenrücken. Sogar die Notsitze an den Bankenden wurden aufgeklappt und dienten den Nachzüglern als Sitzgelegenheit. Die 10- bis 13-jährigen Schulkinder saßen wie immer im oberen Rang. Pfarrer Lencer hatte am Sonntag zuvor gedroht, alle nachsitzen zu lassen, wenn nicht Ruhe im Rang herrsche. Dazu muss man wissen, dass Lachen und Johlen, wie es heute ab und zu in einer Kirche zu hören ist, damals unvorstellbar war. Die störenden Geräusche, von den Schulkindern verursacht, bestanden aus Flüstern, Mit-den-Füßen-scharren und Knarren mit den Bänken.
In dieser vollbesetzten Kirche begann nun der Gottesdienst. Die Schulkinder zappelten wie üblich hin und her und verursachten einige Unruhe. Der Pfarrer hatte schon einen strafenden Blick nach oben geworfen und sie waren etwas eingeschüchtert. Noch ein Geräusch und sie mussten alle nachsitzen. Doch eine Sache war anders als sonst. Der Sohn des Fleischers Mickelat hatte ein neues Gesangbuch mit einer golden verzierten Buchhülle von seinem Vater als Geschenk bekommen. Der stolze Besitzer legte es, wie sonst das alte Gesangbuch, auf die Brüstung. Die war nun zum einen so hoch, dass die Kinder aufstehen müssen, um von der Predigt etwas zu sehen, zum anderen nur so breit, dass gerade ein Gesangbuch ohne Hülle Platz findet. Und da passierte das Unglück. Pfarrer Lencer schaute wieder nach oben und der junge Mickelat stieß aus Versehen und vor Schreck gegen sein Gesangbuch, das wiederum der Buchhülle den nötigen Schwung gab, die herabsauste und den Hut der Frau Holzenburg, auf den sie besonders stolz war, an der hinteren Krempe traf – was von ihr als Faustschlag des hinter ihr sitzenden Fleischermeisters Mickelat auf ihren geliebten Hut gedeutet wurde. Nachdem sie den Hut der Frau Holzenburg fast vom Kopf geschlagen hatte, fiel die Hülle zwischen die Bankreihen. Vater Mickelat sah die fallende Buchhülle, erkannte sie sofort als die seines Sohnes, konnte sie aber nicht mehr abfangen. Deshalb versuchte er, die auf dem Fußboden liegende Hülle heimlich unter seine Jacke zu bringen. Die ungewöhnlichen Gebärden und das Wackeln der Bank deutete Frau Holzenburg nun, nach dem üblen Anschlag, als stilles Gelächter. Sie stand auf und schlug wutentbrannt dem Fleischermeister Mickelat eine schallende Ohrfeige ins Gesicht. Nun sah sich der in seinem Gesicht und seiner Ehre verletzte Fleischermeister gezwungen, eine laute Beschimpfung gegen Frau Holzenburg zu starten, welche von seiner Frau, die ihren Mann grundlos angegriffen sah, ebenso laut unterstützt wurde. Damit wurde auch der Letzte auf diese doch für einen Kirchgang ungewöhnliche Situation aufmerksam. Einen Augenblick sah es so aus, als sollte es eine Prügelei unter den Verwandten der beiden Fleischer geben. Einige krempelten schon in Gedanken die Ärmel hoch. So wäre es bestimmt auch gekommen, wenn nicht die Kirche so überfüllt gewesen wäre. Alle saßen in den Bänken so eingekeilt, dass keiner einfach aufspringen und den Streithähnen handfesten Beistand leisten konnte.
Der Einzige, der das ganze Geschehen überblickte, war der Pfarrer Lencer. Durch sein Eingreifen wurden die Gemüter schnell wieder beruhigt und keiner erlitt einen Schaden. Auch der Hut der Frau Holzenburg ward danach noch oft in der Kirche gesehen. Die Stunden, die der Küster und Lehrer den Sohn des Mickelat nachsitzen ließ, waren bald vergessen. Endgültig wurde der böse Streit im Zingel-Krug – noch in der gleichen Stunde und unter tatkräftiger Mithilfe der Beteiligten, der Zuschauer und des Schlichters – beigelegt. Nur Fleischermeister Holzenburg hatte von dem Geschehen, bis auf die Versöhnung, nichts mitbekommen. Böse Zungen behaupten, dass er während des ganzen Gottesdienstes die Augen geschlossen hatte.
Text: Michael Deylitz